Homo Physicensis
Inmitten unserer Gesellschaft wandelt eine eigentümliche Kreatur,
die eines besonderen Umgangs bedarf.
Im Gegensatz zur Normalschöpfung, die sich selber mit dem Titel
des Doppel-Sapiens zu krönen erdreistet, schaut die Gattung, die
wir nachfolgend vorstellen wollen, bei solch einer Selbstverherrlichung
beschämt zu Boden.
Weil sie nämlich ihre unzweifelbar überragenden Leistungen
in der Weltgeschichte nie zugeben würde.
Zumindest nicht öffentlich.
Die Rede ist vom "Homo physicensis".
Durch Körperbau unterscheidet er sich durch nichts von den
übrigen Hominiden.
Er ist keine finanzielle Last, genausowenig wie er eine
militärische Bedrohung oder religiöse Sekte darstellt.
Zu Lebzeiten fristet er ein Schattendasein unter Verblendeten.
Höchstens bei Sonnenfinsternissen wird man seiner gewahr, wenn er
für wenige Minuten ins Licht der Öffentlichkeit rückt.
Dann beeindruckt er diejenigen, deren Hypophyse größer als
der Rest des Hirns ist, mit seiner ultimativen Weisheit über die
Nichtexistenz allen Seins.
- Wen juckt's?
In der Masse erkennt man ihn äußerlich an seinem
modebewußten Auftreten in zerschlissenen Jeans und
karierten Hemden, an deren gekrümmten Muster er die Wirkung
der Leibesgravitation hautnah erlebt.
Natürlich dürfen da die Öko-Sandalen nicht fehlen, die
er beim letzten Anti-Atom-Protest von einem getroffenen Bullen gegen
200 Euro einlösen mußte.
Sein zersaustes Haar, ein morgendliches Relikt seiner Träume vom
organisierten Chaos, würde selbst bei Windstille der Vergewaltigung
durch einem Kamm standhalten.
Bar einer Nudelrollenschwingerin im Haus, sind für ihn süße
Tischdeckchen sowie reizend ausgearbeitete Fenstervorhänge
unpragmatischer Luxus.
In der Küche, dem Hauptlabor zum Nachweis experimenteller Talente,
sieht es aus, als hätte El Nino gewütet, und aus dem Muster des
Bestecks läßt sich die Kreativität mehrerer, bereits
verstorbener Designer erschließen.
Die kulinarischen Gaumenfreuden dieses Zweibeiners ergötzen sich
werktags an Spaghetti mit Sauce, wobei die Gewürztüte der
Vorratspackung unbedingt beiliegen muß.
An Sonn- und Feiertagen gibt's auch mal Tiefkühlpizza, denn eins
muß ja schon sein:
Sich abwechslungsreich ernähren wie Gott in Grönland.
Doch das wesentliche Merkmal solcher Paranormalen ist ihr Charakter:
Sie sind aufgrund ihres eigenwilligen Sozialverhaltens nicht gerade
pflegeleicht - und das bei steigenden Gesundheitskosten.
Tatsächlich kommt es ab und zu vor, daß ein Element dieser
Gattung krank wird.
Im Gegensatz zur landläufigen Meinung besteht nämlich das
seltsame Subvolk moderner Zivilisation immer noch nicht aus unsterblichen
Göttern.
Nehmen wir mal an, ein Arzt nimmt so ein Individuum in der Ambulanz eines
Krankenhauses ahnungslos auf.
Er stellt fest, daß an diesem Subjekt eine Bypass-Operation
durchgeführt werden müsse.
Zu jeder Operation ist nun mal ein Aufklärungsgespräch
vorgeschrieben, in dem eine Erläuterung des Befundes und Schilderung
des Eingriffs zur Sprache kommen.
Bei Normalhominiden dauert es höchstens zehn Minuten.
Nicht so beim Homo physicensis!
Oder glauben Sie etwa, dieser gibt sich mit einer simplen Erklärung
über das Wann und Wo zufrieden?
"Wenn sich ein Bypass verschließt, dann doch an der Nahtstelle?"
fragt der wißbegierige Patient.
Die Augen des Arztes rollen zur Stirn... Man muß also dem armseligen
Wicht zunächst erklären, daß es prädestinierte Stellen
sind, an denen so etwas passiert, weil durch die Naht eine Porosität
entsteht und keine laminare Strömung im Blut herrscht.
Das Problem muß nun im Detail erörtert werden.
"Gibt es Wahrscheinlichkeitstabellen über Nebenkomplikationen
während der Operation?" fragt der Patient und malt auf ein leeres
Blatt ein Koordinatensystem und wartet auf Daten, um eine
Verteilungsfunktion über die möglichen Fälle zeichnen zu
können.
Der Arzt, inzwischen leicht genervt, schaut auf die Uhr, denn der nächste
Patient wartet schon seit 20 Minuten, dennoch erklärt er dem
verrückten Theoretiker, daß er sich keine Sorgen zu machen brauche:
"Ein Arzt stützt sich auf seine Erfahrung," sagt er, "und leitet schon
beim geringsten Verdacht die ersten Maßnahmen zur Behandlung ein.
Manchmal muß er sogar schlicht therapieren, ohne die Diagnose je
herausgefunden zu haben.
Wenn er nämlich über irgendwelche Wahrscheinlichkeiten
herumphilosophieren würde, wäre der Patient schon tot."
Nach einer Stunde weiterer Fragerei ist der Arzt geschafft.
Sein langjähriges Studium hat er repetieren müssen, ungeahnte
biochemische Zusammenhänge zwischen endokrinem Aldosteron und
desmoplastischem Fibrom sind aus seinem dorsalen Cortex zum Vorschein
gekommen.
Wenn er das Zimmer traumatisiert verläßt, hofft der Medicus mehr
denn je, daß gerade dieser Patient schnell genesen möge.
Der Homo physicensis ist in permanenter Lernbereitschaft.
Gibt man ihm einen Kugelschreiber, so ist er den ganzen Tag mit der Demontage
beschäftigt, um anschließend das Schreibwerkzeug von Grund auf
neu zu erfinden.
Die darauffolgenden Konstruktionsversuche dienen als Vorlage für die
nächste Episode von Mr. Bean.
Und falls wider Erwarten doch ein funktionierender Griffel zum Vorschein
kommen sollte, so ist die Glückseligkeit in seinem Gesicht die
größte Extase seit dem Recycling von Schnappdeckeln.
Mit stolzgeschwellter Brust meint er dann, den Aufbau des Kosmos nach der
Hadronen-Ära verstanden zu haben.
Unter diesen Wesen erwirbt man sich den Status des Intellektuellen nicht durch
den Verleih von Blechmedaillen sondern durch Selbsternennung.
In diesem Sinne: Gehabt euch wohl!
Veröffentlicht als Story im Literaturforum "kg.de":
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www.kurzgeschichten.de,
heutiger Name: www.wortkrieger.de
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Last modified: 2004, Mai 11